Deutsche Gesellschaft für Ökonomische Bildung

"Digitalität als neue Konzeption von Wirtschaftsbildung"

16.03.21 16:50 (Michael Schuhen, Manuel Froitzheim, Universität Siegen)

Der Bildungsbereich in Deutschland hängt nach allgemeiner Einschätzung in der Digitalisierung hinter vielen anderen Ländern her (Ikeda 2020). Dies betrifft sämtliche Bereiche, die unter dem Begriff Digitalität diskutiert werden (Mecklenburg 2020):


- Integration,
- Transformation
- Innovation und
- Automatisierung.


Die digitale Integration beschreibt den Übergang von analogen Handlungsformen zu digitalen Handlungsformen. Diese Form der Digitalität wurde erst durch das Internet möglich. Viele kommunikative Bedürfnisse wurden durch die digitale Integration neu gedacht und erweitert. Das digitale Handeln fügt sich in das bisherige Handlungsfeld ein und integriert zugleich die bestehenden Handlungsformen in das Digitale. Mit Blick auf Unterricht ist diese erste Lesart von Digitalität schwierig. Mangelnde Breit-bandanbindungen und fehlende Vernetzung in Schulen haben dazu geführt, dass die digitale Integra-tion im gesellschaftlichen Subsystem Schule noch nicht so weit vorangeschritten ist wie im Alltagsum-feld der Schülerinnen und Schüler, auch wenn Vertretungspläne bspw. per App kommuniziert werden.
Durch Schulschließungen während der Corona-Krise dürfte vor allem die digitale Transformation vo-rangebracht worden sein. Bei der digitalen Transformation ersetzen digitale Handlungsformen an be-stehenden Stellen bisher häufig herkömmliche kommunikative Formen gesellschaftlichen Austausches. Dies kann ein Nebeneinander von analogen und digitalen Formen bedeuten, aber genauso auch ein Verdrängen der bisherigen Formen. Es ist unwahrscheinlich, dass die digitale Ausgabe eines Schul-buchs als PDF-Datei die Nutzung des gedruckten Schulbuchs ablösen wird, denn die PDF-Datei bringt keinen Mehrwert für die Lernkultur. Jedoch dürfte das bei einer fachlich und methodisch gedachten Neukonzeption von Unterricht mit Hilfe interaktiver Schulbücher anders aussehen. Ökonomisches Denken, ein handlungs- und methodenorientiertes fachliches Lehren und Lernen stehen dann im Vor-dergrund und könnten zu einer pädagogisch reflektierten digitalen Transformation gängiger Unter-richtssettings führen und einen didaktischen Mehrwert bieten.
Damit einher gehen digitale Innovationen. Die Etablierung dieser digitalen Innovationen hängt mit der Einsatzbereitschaft der Lehrerkollegien und der infrastrukturellen Ausstattung der Schulen eng zusammen. Digitalisierung im Sinn von digitaler Innovation findet immer dann statt, wenn angesichts der Möglichkeiten des digitalen kommunikativen Handelns ein neuer Weg gesucht wird, um ein kommunikatives Bedürfnis (hier Unterricht) besser zu erfüllen. Ein interaktives Schulbuch in diesem Sinne löst sich von der analogen Vorlage und überdenkt, wie das kommunikative Bedürfnis unter den Bedingun-gen der Digitalität, d.h. über digitales kommunikatives Handeln umgesetzt werden kann. Ökonomisches Denken, die Evozierung von Reflexionsprozessen durch Simulationen, Planspiele oder ökonomi-sche Experimente rücken in den Fokus der Neukonzeption. Dieser Weg unterscheidet sich grundsätz-lich von der bisherigen Praxis von Wirtschaftsunterricht und stellt sie in Frage.
Und gänzlich ungeklärt ist die Frage, ob Deutschland den Weg zur digitalen Automatisierung im Bil-dungsbereich überhaupt gehen wird. Andere Länder versuchen hier bereits Programme einzusetzen, um beispielsweise Feedbackprozesse während des Lernens zu automatisieren. Aber genau an dieser Stelle ist mit Blick auf adaptive Lehr-Lernszenarien für die Wirtschaftsbildung eine neue Offenheit notwendig.

 

 


Digitalität als neue Konzeption von Wirtschaftsbildung

 


An dieser Stelle setzt die Neukonzeption Digitalität von Wirtschaftsbildung an: Wesentliche Aufgabe einer Fachdidaktik ist, Kriterien zu entwickeln, die es ermöglichen, aus den Fachinhalten (Wirtschafts-wissenschaft) Lerninhalte (Wirtschaftslehre) auszuwählen und lerntheoretisch relevante Unterrichts-verfahren herauszufinden. Zur Lösung dieses Problems wurden bisher verschiedene Vorgehenswei-sen/ Konzeptionen entwickelt. So greift der kategoriale Ansatz die Bildungsfrage auf, wohingegen der institutionenökonomische Ansatz den Wirtschaftskreislauf als Analysekriterium ins Zentrum stellt. Der Ansatz „Qualifizierung für Lebenssituationen“ hingegen geht von der Lebenswelt der Schüler aus und versucht auf dieser Basis, Empfehlungen für Unterrichtsinhalte und Curricula zu entwickeln. Jeder der genannten Ansätze basiert auf Handlungsannahmen, die wesentlich für die Ableitung von Vorschlägen für Curricula für die ökonomische Bildung sind. Als neue Konzeption soll Digitalität von Wirtschaftsbildung in die Diskussion eingebracht werden. Digitalität von Wirtschaftsbildung greift das Lernen und Verstehen von ökonomischen Denkweisen und Prozessen auf und stellt Reflexivität als Zielkriterium des Unterrichts ins Zentrum (Schuhen 2019 und 2020 sowie Schlösser et al. 2017). Somit gewinnen gute Aufgaben (Weyland/ Schuhen 2014, 2015, 2017; Schuhen/ Froitzheim 2015 und Schuhen/ Wey-land 2011) und ein fachlich-methodischer Unterricht an Bedeutung.

 

 


Was ist neu an dieser Konzeption?

 


Digitalität im Sinne von Castells (2017) verschränkt mit Blick auf den Unterricht die „digitalen“ und „analogen“ Wirklichkeiten. Wir haben es mit einem Übergang von analogen Handlungsformen in na-hezu allen gesellschaftlichen Bereichen zu digitalen Handlungsformen zu tun. Besonders stark trifft dies, wie einleitend dargestellt, auf den Bildungsbereich zu.
Es wäre jedoch misslich, wenn im Sinne der digitalen Transformation Wirtschaftsunterricht zwar durch digitale Möglichkeiten angereichert würde, dies aber nur, um letztlich dasselbe wie vorher zu machen. Stattdessen geht es um Unterricht, der gegenüber dem Bestehenden einen Mehrwert hat. Didaktisch unterkomplexe digitale Transformation im Bildungsbereich löst die Probleme von Unterricht nicht und hebt auch nicht die Potentiale einer Bildung in der digitalen Welt (KMK 2016).
Didaktisch reflektierte Digitalität dagegen kann als neue Konzeption von Wirtschaftsbildung durch digitale Werkzeuge und Methoden fachlichen Unterricht und ökonomisches Denken fördern. Um mit Nölte (2020) zu sprechen: “Digitale Bildung heißt für mich Lernen in einer digitalisierten Welt – und nicht Digitalisieren von analoger Schule”. Hier sehen wir unmittelbar zwei der vorgestellten Lesarten von Digitalisierung: “digitalisierte Welt” ist Digitalisierung im Sinn der digitalen Integration und könnte auch “digitale Welt” heißen. Das abgelehnte “Digitalisieren von analoger Schule” ist Digitalisierung im Sinn der digitalen Transformation mit der angesprochenen Skepsis. „Was Nölte vorschwebt und lei-tend für die Konzeption Digitalität von Wirtschaftsbildung ist, ist digitales Handeln im Sinn der dritten Lesart von Digitalisierung als digitaler Innovation“ (Mecklenburg 2020), um Wirtschaftsunterricht besser zu machen als im analogen Paradigma. Für dieses Paradigma möchten wir Digitalität als neue Kon-zeption von Wirtschaftsbildung theoretisch fundieren und praktisch am Beispiel des ECON EBooks um-setzen.
Dabei steht Interaktivität als moderner Schlüsselbegriff im Zentrum. In ihrer pädagogischen Auslegung soll Interaktivität den Lernenden zielgerichtete Eingriffs- und Steuerungsmöglichkeiten eröffnen. Ziel ist ein individualisiertes Lernen und eine Orientierung an den Interessen und Bedürfnissen der Lernen-den (Schuhen/ Froitzheim 2020 und Froitzheim/ Schuhen 2015). Durch interaktive Angebote sollen die Lernenden zu eigener Aktivität und Konstruktivität angeregt werden. Interaktivität verpflichtet aber auch dazu, Lernende miteinander zu vernetzen, damit sie im Austausch über gemeinsame Lernangebote miteinander Lernergebnisse erzielen und dies auch weltweit (Schuhen/ Froitzheim 2018). Inter-aktivität erfordert aber auch ein Überdenken bisheriger Aufgabenstrukturen und führt auf der Basis des Digitalen zu völlig neuen Möglichkeiten ökonomischer Lehr-Lernprozesse.
Kollaboration bedeutet in diesem Zusammenhang ein gemeinsames Erarbeiten von Unterrichtsinhal-ten oder Lösen von Problemstellungen. Interaktive Schulbücher für den Wirtschaftsunterricht stellen kollaborativ zu bearbeitende Aufgaben bereit und führen die Ergebnisse gezielt zusammen. So ent-steht beispielsweise durch arbeitsteiliges Vorgehen ein Schülerwarentest (Froitzheim et al. 2018) oder ökonomische Handlungssituationen können in gemeinsamen Simulationen erfahren und ausgewertet werden.
Wenn man nun davon ausgeht, dass das Gelingen von Lernprozessen im Wesentlichen mit der Bear-beitung von (guten) Aufgaben zusammenhängt, gewinnen fachlich gehaltvolle Aufgaben an Bedeutung (Weyland/ Stommel 2016; Kirchner/ Loerwald 2013). Digitalität als neue Konzeption von Wirtschafts-unterricht ermöglicht an dieser Stelle erstmals einen dauerhaft methodischen Zugang im Aufgaben-bereich des Unterrichts und eröffnet somit Chancen für die Reflexion ökonomischer Lehr-Lernprozesse.

 

 

 

Literatur:

 

Castells, M. (2017): Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Das Informationszeitalter. Wirtschaft. Ge-sellschaft. Kultur. 2. Aufl., Wiesbaden.

 

Ikeda, M. (2020), "Were schools equipped to teach – and were students ready to learn – remotely?", PISA in Focus, No. 108, OECD Publishing, Paris, doi.org/10.1787/4bcd7938-en

 

Kultusministerkonferenz (2016): Bildung in der digitalen Welt. Strategie der Kultusministerkonferenz. Online unter www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/2017/Strate-gie_neu_2017_datum_1.pdf

 

Mecklenburg, L. (2020): Digitalität und Digitalisierung. Verschiedene Lesarten von Digitalisierung. On-line unter medium.com/@larsmecklenburg/digitalit%C3%A4t-und-digitalisierung-ab5e874cf348

 

Nölte, B. (2020): digital statt digitalisieren. Online unter www.youtube.com/watch

 

Froitzheim, M./ Schuhen, M. (2015): Das ECON EBook als interaktives und multimediales elektroni-sches Schulbuch für den Ökonomieunterricht. In: Pongratz, Hans/ Keil, Reinhard (Hrgs.): DeLFI 2015 – Die 13. E-Learning Fachtagung Informatik der Gesellschaft für Informatik. Bonn (Köllen Druck+Ver-lag), S. 253-264.

Froitzheim, M./ Retzmann, T./ Schuhen, M. (2018): Schülerwarentest digital. Online verfügbar unter www.schuelerwarentest.de

Kirchner, V./ Loerwald, D. (2013): Ökonomische Bildung im Zentralabitur. Online unter www.ioeb.de/sites/default/files/pdf/01_121212_Loerwald%20-%20Kirchner_Zentralabi-tur_Diskussionspapier.pdf.

Schlösser, H.J. / Schuhen, M./ Schürkmann, S. (2017): The Acceptance of the Social Market Economy. In Citizenship, Social and Economics Education, 16(1), S. 3-18.

Schuhen, M./ Froitzheim, M. (2015): Konzeption des ECON EBooks mit dem Fokus „Gute Aufgaben“. In: Schuhen, M./ Froitzheim, M. (Hrsg.): Das Elektronische Schulbuch. Fachdidaktische Anforderun-gen und Ideen treffen auf Lösungsvorschläge der Informatik. Münster, S. 139-156.

 

Schuhen, M./ Froitzheim, M. (2018): Elektronische Schulbücher In: Pädagogische Führung 1/2018, S. 33-36.

 

Schuhen, M./ Froitzheim, M. (2020): Wenn Übung den Meister macht, sollte Übung doch Pflicht sein?!. In: Zeitschrift für Hochschulentwicklung, S. 147-173. DOI: 10.3217/zfhe-15-01/08

 

Schuhen, M./ Weyland, M. (2011): „Marktwirtschaft“ unterrichten – aber wie? In: GWP, 3/2011, S. 383-387.

 

Schuhen, M. (2019): Verbraucherbildung, wirtschaftspolitische Bildung und technikgestützte Lernum-gebungen für die ökonomische Bildung (Habilitationsschrift) Siegen.

 

Schuhen, M. (2020) Wirtschaftsdidaktik. Ein interaktives Lehrbuch. Online verfügbar über uni-siegen.econ-ebook.de

 

Weyland, M./ Schuhen, M. (2014): Interaktive domänenspezifische Aufgabenkultur in der ökonomi-schen Bildung. In: Schuhen, Michael/ Froitzheim, Manuel (Hrsg.): Das Elektronische Schulbuch. Fach-didaktische Anforderungen und Ideen treffen auf Lösungsvorschläge der Informatik. Münster, S. 135-154.

 

Weyland, M./ Schuhen, M. (2015): Fachmethodisch geleitete Generierung, Entwicklung und Evalua-tion kognitiv aktivierender Aufgabenformate in der ökonomischen Bildung. In: Arndt, Holger (Hrsg.): Kognitive Aktivierung. Bad Schwalbach, S. 157-171.

 

Weyland, M./ Schuhen, M. (2017): Durch experimentelles Lernen disziplinäre und fachübergreifende Perspektiven entwickeln. In: Arndt, Holger (Hrsg.): Perspektiven ökonomischer Bildung. Schwalbach, S. 257-273.

 

Weyland, M./ Stommel, P. (2016): Kompetenzorientierung 2.0 – Domänenspezifische Lernaufgaben für die ökonomische Bildung. In ZföB 2016, S. 94-118.