Deutsche Gesellschaft für Ökonomische Bildung

"Förderung der Selbstbestimmung von Menschen mit geistiger Behinderung im beruflichen Übergang "

15.03.21 14:55 (Rudolf Schröder, Henschel)

Ein wesentliches Ziel der Inklusion ist die Förderung von Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Eine wichtige Rolle kommt hierbei dem beruflichen Übergang zu. Insbesondere Menschen mit geistiger Behinderung gelingt die Aufnahme einer (theoriereduzierten) Berufsausbildung und die Integration in den ersten Arbeitsmarkt äußerst selten. Ein Grund besteht darin, dass die notwendigen Qualifizierungsmöglichkeiten mit einem anerkannten Abschluss unterhalb einer theoriereduzierten Ausbildung bislang nur in Ansätzen existieren. Hinzu kommt, dass den betroffenen Menschen Werkzeuge fehlen, welche die selbstständige Reflexion der beruflicher Interessen und Talente unterstützen. Verbreitete Verfahren wie z. B. Hamet e beruhen primär auf der Fremdbeurteilung durch das sonderpädagogische Fachpersonal in den Bildungseinrichtungen. Die stetige Reflexion eigener Interessen, Erfahrungen und Fähigkeiten sowie der Abgleich mit der Fremdeinschätzung ist aber sehr bedeutsam, da sich das Selbstbild von jungen Menschen mit geistiger Behinderung häufig wesentlich von der Fremdsicht durch Dritte unterscheidet (vgl. Radatz/Ginnold 2003, Theunissen 2016, Schuppe-ner 2005, Theiß 2005).
Das vom BMBF geförderte Projekt STABIL (Selbstbestimmung und Teilhabe für Alle in Berufswahl und -Bildung) setzt an diesem Problem an. Ziel ist es, ein digitales Assistenzsystem im Sinne einer Selbstreflexions- und Kommunikationshilfe zu entwickeln, mit dessen Hilfe die Menschen mit geistiger Behinderung selbstständig über die eigenen Interessen, Erfahrungen und Fähigkeiten reflektieren. Die Ergebnisse der Selbsteinschätzung bilden die Grundlage für Gespräche zwischen den Personen mit geistiger Behinderung und Lehrkräften, Fachkräften der beruflichen Bildung sowie Eltern.
Das Institut für Ökonomische Bildung ist insbesondere für die Entwicklung einer App zur Re-flexion beruflicher Tätigkeiten zuständig. Ausgangspunkt sind Fotos von beruflichen Tätigkei-ten zu verschiedenen Berufen, die von Menschen mit geistiger Behinderung eigenständig unter verschiedenen Fragestellungen – z. B. „Das gefällt mir“ oder „Das hat gut geklappt“ - reflektiert werden. Der Einsatz der App erfolgt in der Beruflichen Orientierung und beruflichen Integration in Schulen, Unternehmen und Werkstätten für Menschen mit Behinderung.
Die beruflichen Tätigkeiten wurden u. a. aus den Ausbildungsordnungen für theoriereduzierte Ausbildungsberufe und den Qualifizierungsrahmenplänen der Werkstätten für behinderte Menschen abgeleitet und durch Expertengespräche validiert. Im Sinne des Design-Based Research sind die theoretische Fundierung und praktische Entwicklungsarbeit eng mit der fortlaufenden Evaluation in Schulen, Unternehmen und Werkstätten für behinderte Menschen verbunden.
In dem Vortrag werden zwei Schwerpunkte gesetzt. Aus der konzeptionellen Perspektive werden die Ausgestaltung der App und deren Einsatzmöglichkeiten in der Beruflichen Orientierung und beruflichen Integration dargestellt. Aus der empirischen Perspektive werden die besonderen Herausforderungen der Evaluationsarbeit im Zusammenhang mit der Zielgruppe des Projektes reflektiert.

 

 

Literatur:

 

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Davies, Daniel K. / Stock, Steven E. / Davies, Cameron D. / Wehmeyer, Michael. L. (2018): A Cloud-Supported App for Providing Self-Directed, Localized Job Interest Assessment and Analysis for People with Intellectual Disability. In: Advances in Neurodevelopmental Disorders, 2/199-205

 

Hirschi, Andreas / Baumeler, Franziska (2020): Berufswahltheorien – Entwicklung und Stand der Dis-kussion. In: Brüggemann, Tim / Rahn, Sylvia (Hrsg.): Berufsorientierung. Ein Lehr- und Arbeits-buch. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Münster und New York: Waxmann, 31-42

 

Holland, J. L. (1997): Making vocational choices. A theory of vocational personalities and work en-vironments. 3. Aufl. Odessa: Psychological Assessment Resources

 

Klinck, D. (2012): Anforderungen an moderne Verfahren der Berufseignungsdiagnostik. In: Berufliche Rehabilitation, 1/ 37–47

 

Niedersächsisches Kultusministerium (2016): Kerncurriculum für den Förderschwerpunkt Geistige Ent-wicklung. Sekundarbereich II. Schuljahrgänge 10-12.

 

Niedersächsisches Kultusministerium (2018): Berufliche Orientierung an allgemein bildenden Schulen. Rd.Erl. d. MK vom 17.09.2018. www.mk.niedersachsen.de/startseite/schule/unsere_schu-len/allgemein_bildende_schulen/berufliche_orientierung_an_allgemein_bildenden_schulen/be-rufsorientierung-an-allgemein-bildenden-schulen-124167.html (Abruf: 21.10.2020).

 

Radatz, Joachim / Ginnold, Antje (2003): Die Bedeutung von Selbst- und Fremdeinschätzung im be-ruflichen Integrationsprozess. In: Feuser, Georg (Hrsg.): Integration heute – Perspektiven ihrer Weiterentwicklung in Theorie und Praxis. Frankfurt/Main u. a.: Lang, 237-255

 

Schröder, R. / Erdélyi, A. (2018): STABILe Kommunikation und Beratung auf dem Weg in den Beruf für Menschen mit geistiger Behinderung. In: dvb-Forum, Heft 1/2019, S. 36-42

 

Schuppener, Saskia (2005): Selbstkonzept und Kreativität von Menschen mit geistiger Behinderung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt

 

Theiß, Denise (2005): Selbstwahrgenommene Kompetenz und soziale Akzeptanz bei Personen mit geistiger Behinderung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt

 

Thomas, Joachim / Weißmann, Regina (2020): Fähigkeits- und Interessentests in der Studien- und Be-rufsorientierung. In: Brüggemann, Tim / Rahn, Silvia (Hrsg.): Berufsorientierung. Ein Lehr- und Ar-beitsbuch. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Münster und New York: Waxmann, 349-359

 

Vereenooghe, Leen / Westermann, Kristian (2019): Co-development of an interactive digital intervention to promote the well-being of people with intellectual disabilities. The British Society of Developmen-tal Disabilities, 65/3/128-134